«Geothermie kann flexible Grundlast bereitstellen. Genau das brauchen wir im Energiesystem der Zukunft!»
17.08.2022Die sichere Versorgung der Bevölkerung mit Gütern des täglichen Gebrauchs und mit Energie ist in Krisenzeiten mit Krieg, Dürre und Pandemie keine Selbstverständlichkeit. Aufgrund von drohenden Gasengpässen und Strommangellagen im Winter dominieren kurzfristige und auch nichterneuerbare Lösungsansätze den öffentlichen Diskurs. Die Geothermie und andere erneuerbare Primärenergieträger rücken dadurch in den Hintergrund. Gianni Operto, Präsident von aeesuisse, ist unzufrieden mit dem Ausbautempo der erneuerbaren Energien und findet: Es müsste zehnmal schneller gehen.
Gianni Operto, am letztjährigen Geothermie-Forum haben Sie gesagt, der Klimawandel sei inzwischen bei allen Menschen mit IQ über 50 angekommen. Das ist eigentlich eine gute Voraussetzung für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Die Menschen in Mitteleuropa machen sich seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine jedoch andere Sorgen. Würden Sie Ihre Aussage von vergangenem September also auch heute noch unterstützen?
Ja, denn der Klimawandel ist eher noch mehr in den Vordergrund gerückt. Die Diskussionen über die Dringlichkeit des Klimaproblems und die Lösungsansätze werden zumeist aber nicht sachlich geführt. Im Gegenteil. Ich stelle mit Erstaunen fest, dass in der Diskussion zur Energieversorgung bei vielen Leute der quasireligiöse Glaube an die eine oder andere Energielösung für die Zukunft dominiert und nicht die Faktenlage. Solcher religiöse Eifer bringt uns aber nicht weiter. Auf die Fachexperten, die wirklich etwas beitragen, hören wir zu wenig. Zu viele Leute ohne Fachkenntnis reden mit, ohne fundiertes Wissen über Möglichkeiten und Implikationen in der Zukunft.
Woran machen Sie das fest?
Zum Beispiel ist der Ruf nach Kernenergie wieder lauter geworden. Dabei ist Kernenergie die mit Abstand teuerste Option, die uns zur Verfügung steht. In der Energieversorgung hat es in Zukunft zudem keinen Platz mehr für Bandproduktion im Gigawattbereich, wie es Kernkraftwerke liefern. Was wir in Zukunft brauchen, ist eine flexible Grundlast. Die Geothermie kann das, die Kernenergie hingegen ist einfach schlecht geeignet dafür. Das hat nichts mit persönlichen Vorlieben, Ideologien oder Risiken zu tun, sondern ist ein energiewirtschaftlicher Fakt.
Warum braucht es grosse Kraftwerke in Zukunft nicht mehr? Unser Stromverbrauch dürfte eher noch zu- statt abnehmen.
Kaum jemand hat das Energiesystem als Ganzes im Blick. Wer grosse Kraftwerke fordert, denkt dabei nur an die Produktion und nicht an die Übertragung. Dabei gilt für das elektrische Übertragungsnetz das «n-1»-Prinzip. Dieses besagt, dass man zu jedem Zeitpunkt ein entscheidendes Element herausnehmen kann, ohne dass das gesamte System kollabiert. Das kann eine Produktionsanlage oder ein Netzelement sein. Auf die Produktion bezogen heisst das: Wir müssen so viel netzgekoppelte Reservekapazität zur Verfügung haben wie das grösste Kraftwerk am Netz. Und dieses hat eine Leistung von mehr als 1’200 Megawatt…
Das Kernkraftwerk Leibstadt.
… So viel Leistung muss also jederzeit bereitstehen, wenn es zu einer Notabschaltung kommt. Im Moment beziehen wir diese Backup-Leistung aus Europa, aber ohne Stromabkommen mit der EU wird das in Zukunft zum Problem. Dazu kommt: Unsere Energiestrategie beinhaltet Importe von 15 Terawattstunden Strom im Winterhalbjahr. Diese können wir aber nur beziehen, wenn die Leitungen ins Ausland voll ausgelastet sind. Dann wiederum funktioniert das n-1-Prinzip bei uns nicht mehr und die Gefahr eines Blackouts ist real. Daher habe ich schon bei der Entwicklung der Energieperspektiven dafür plädiert, den Ausbau der einheimischen, erneuerbaren Energien stark zu beschleunigen.
Das ist aber nicht passiert.
Nein, ganz im Gegenteil, die Schweiz geht es viel zu gemächlich an. Wir haben in den letzten Jahren zu viel Zeit verloren. Der Ausbau müsste um Faktor 10 schneller gehen.
Warum sind wir in der Schweiz dazu nicht in der Lage? Sind wir zu bequem, fehlt uns der Mut, ist der Leidensdruck noch zu niedrig?
Ich würde es sogar noch etwas böser ausdrücken: Wir sind überheblich. Wir setzen auf das Prinzip Hoffnung und eine funktionierende Zusammenarbeit mit Europa. Ich höre immer und immer wieder von Politikern und Wirtschaftsvertretern, dass die EU im Bereich Energie auf die Schweiz angewiesen ist. Dass sie unsere Pumpspeicherkraftwerke benötigt, um das gesamteuropäische Netz zu stabilisieren. Dass die Schweiz als Transitland nach Italien unverzichtbar ist. Nichts davon stimmt. Die EU und Italien sind nicht untätig. So baut Italien derzeit drei Unterseekabel in den Balkan, nach Frankreich und nach Ägypten. Die Schweiz braucht es da immer weniger. Es stimmt zwar, dass die EU von unseren Pumpspeicherkraftwerken profitieren könnte. Aber sie ist auch da nicht zwingend auf die Schweiz angewiesen. Umgekehrt braucht die Schweiz die EU. Dass der Bundesrat mit der Nichtunterzeichnung des Rahmenabkommens auch das für unsere Versorgungssicherheit so wichtige Stromabkommen torpediert, ist fahrlässig und treibt uns in die Isolation. Leider haben mit Ausnahme der GLP auch praktisch alle Parteien die Bedeutung dieses Stromabkommens mit der EU zuvor nicht erkennen wollen.
Das Thema Versorgungssicherheit treibt die EU ebenfalls stark um. Sind das für uns düstere Aussichten? Können wir im Notfall auf die Unterstützung unserer Nachbarn zählen?
Ein Vertreter aus der Wirtschaft hat mich kürzlich gefragt, wie ich das Risiko eines Gasausfalls im kommenden Winter einschätze. Es wäre einfacher, Kaffeesatz zu lesen… Wenn Putin mit dem falschen Bein aufsteht und ihm etwas über die Leber kriecht, dreht er den Gashahn eben zu. Den Energiesektor haben viele Länder in Europa auf fahrlässige Weise abhängig gemacht von wenigen Technologien und Lieferanten. Deutschland mit dem russischen Gas etwa, oder Frankreich mit seinen Kernkraftwerken, die schon seit geraumer Zeit nur noch zur Hälfte produzieren. Und die Schweiz wiederum ist für ihre Importe genau von diesen beiden Ländern stark abhängig. Ob vertraglich zugesicherte Produktions- und Speicherkapazitäten eingehalten werden, kann ich so nicht beantworten, die Frage liegt aber auf der Hand.
Was kann und muss die Schweiz besser machen, damit der Ausbau nun endlich in Fahrt kommt?
Die Technologien hinter der erneuerbaren Produktionspalette sind reif und können umgesetzt werden. Eine sichere Versorgung mit erneuerbarer Energie ist machbar. Aber wir müssen eine bessere Balance zwischen Schutz und Nutzen finden, sonst erreichen wir die Ziele nie. Heute kann praktisch jeder ein erneuerbares Energieprojekt um Jahre verzögern oder ganz zum Absturz bringen, obschon es zuvor demokratisch legitimiert wurde. Eine einzelne Einsprache reicht – und das kann doch nicht sein. Ich nehme da insbesondere auch Umweltschutzorganisationen in die Pflicht, die sich gegen jegliche Kunstbauten in der Natur wehren. Wasserkraft, Solarenergie, Windenergie, Geothermie – sie alle kämpfen mit teils massiven Widerständen. Die Umweltschutzorganisationen leisten der Energiewende damit einen Bärendienst. Dabei sind es nicht Kunstbauten, die für das aktuelle Fischsterben verantwortlich sind, es ist der Klimawandel! Und diesen verlangsamen wir nur, indem wir die Energiestrategie konsequent umsetzen und den Ausbau der erneuerbaren Energien forcieren. Erneuerbare Energieprojekte fördern die Biodiversität. Immerhin geht es jetzt in der Politik vorwärts, das Problem ist erkannt.
Welche Rolle schreiben Sie der Geothermie im Energiesystem zu?
Unser Energiesystem muss künftig viel dezentraler aufgestellt sein, mit vielen und kleineren Anlagen. Ich habe es vorhin schon erwähnt: Gefragt ist eine flexible Grundlast, die für Stabilität im Übertragungsnetz sorgt. Die Geothermie ist eine Technologie, die genau das bieten kann und jederzeit lieferbar ist! Das Potenzial ist gross und wir müssen es einfach nutzen. Die Geothermie kann unsere Abhängigkeit vom Ausland reduzieren – beim Strom wie auch bei der Wärme. Kurz zusammengefasst also: wir brauchen die Tiefengeothermie für die Stromproduktion und wir brauchen ebenso die mitteltiefe und untiefe Geothermie für unser Gebäudeklima.
Diese Erkenntnis ist nicht neu, warum geht es da Ihrer Meinung nach nicht schneller?
In der Schweiz haben wir zweimal eine unangenehme Erfahrung gemacht mit der Tiefengeothermie. Es erstaunt mich, dass man Jahre später immer noch von Basel und St. Gallen spricht. Die Technologie hat sich weiterentwickelt und die damit verbundenen Risiken sind auf ein Minimum gesunken. Die Geothermie ist sicher, sie ist einheimisch, sie steht Sommer wie Winter zur Verfügung, sie macht uns vom Ausland unabhängig und sie fügt sich hervorragend ein in einem künftigen Energiesystem, das von Wasserkraft und von der Solarenergie getragen sein wird. Die Angst vor möglichen Erdbeben durch die Geothermie ist in meinen Augen unbegründet. Ich spanne nochmals einen Bogen zur Kernenergie als Vergleich: Dass es im waadtländischen Lucens zum weltweit ersten Unfall der zivil genutzten Kernenergie kam, daran denkt heute niemand mehr. Auch Tschernobyl, Three Mile Island, Fukushima – diese nuklearen Unfälle sind weitgehend aus dem Gedächtnis verschwunden. Dabei waren sie viel, viel schlimmer als die von der Geothermie verursachten Erschütterungen.
Bei aller Kritik am zu langsamen Ausbau der Erneuerbaren: Was macht die Schweiz gut bei der Energiewende?
Der grundsätzliche Entscheid nach Fukushima, unser Energiesystem neu auszurichten, war visionär, ist in kurzer Zeit entwickelt und vorangetrieben und in einer Volksabstimmung auch deutlich angenommen worden. Jetzt müssen wir einfach mehrere Gänge höherschalten und die Energiestrategie umsetzen. So wie es zum Beispiel Zürich schaffte, als eine der ersten grossen Städte weltweit zu elektrifizieren. Das war vor 140 Jahren. Am Ursprung stand damals ein junger Ingenieur, der diese Technologie kennengelernt hatte und vom Potenzial dermassen überzeugt war, dass er jahrelang gegen alle Widerstände dafür gekämpft hat. Bis er die Politik von seinem Anliegen überzeugt hat. Wir brauchen auch heute solche Leute, wir brauchen Leute, die vorangehen und die Lawine ins Rollen bringen!
Zur Person Nach seinem ersten Karriereabschnitt bei BBC/ABB Kraftwerke übernahm Gianni Operto die Leitung des ewz Elektrizitätswerk der Stadt Zürich. Dort schaffte er sich den Ruf als Vordenker und Innovator. Er baute als erstes EW den Geschäftsbereich Energiedienstleistungen auf und bewies mit der Solarstrombörse die Vermarktbarkeit eines Premiumprodukts. Das trug ihm sowohl den schweizerischen wie auch den europäischen Solarpreis ein für das beste Marketingkonzept. Er war auch Mitinitiant von swissgrid und diAx (Telecom, später Sunrise). Später wechselte er in den Finanzbereich und baute nacheinander die ersten europäischen Cleantech-Venture Capital-Funds Nextech Venture und Emerald Technology Ventures mit auf. Zuletzt hatte er bei Good Energies als Investment Director die Verantwortung für den Cluster Frontier Technologies. Seit 2011 ist er freiberuflich tätig, immer in der Nähe von nachhaltiger Zukunftstechnik. Präsident von aeesuisse ist Gianni Operto seit 2016. |